Digitalisierungsprojekte - erst Akzeptanz schaffen, dann umsetzen

Mehr Effizienz, weniger Kosten und Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit verspricht die Digitalisierung. Aber nur wenige Digitalisierungsprojekte und Software-Einführungen erreichen diese Ziele. Sie scheitern am Faktor Mensch. Wie sich diese Klippe gekonnt umschiffen lässt, verraten unsere Gastautorinnen Carola Lübbenjans und Sandra Stamer.

Deutschland hat Nachholbedarf bei der Digitalisierung. Auf einem eher unrühmlichen Platz 17 landete Deutschland im jährlichen IMD World Digital Competitiveness Ranking 2019 (siehe auch Infografik). Die private Schweizer Hochschule beurteilt jährlich die allgemeine und die digitale Wettbewerbsfähigkeit von über 60 Ländern. Weit abgeschlagen platzierte sich Deutschland im Digitalranking bei den technologischen Rahmenbedingungen nur auf Platz 40. Im Zuge des Coronabedingten Lockdowns wurden dann die Digitalisierungsdefizite in Unternehmen, der öffentlichen Verwaltung und im Bildungssystem offensichtlich.

Heute ist den meisten Unternehmen klar, dass sie ohne eine weitreichende Digitalisierung im gesamten Unternehmen ihre Wettbewerbsfähigkeit sehr kurzfristig verlieren werden. Versprochene Kosteneinsparungen von bis zu 70 Prozent, deutlich höhere Transparenz und Steuerungsmöglichkeiten durch die Einführung digitaler Technologien für Produktions- und Unternehmensprozesse hatten für viele Unternehmen zwar auch schon vor Corona ihren Reiz. Die Realisierung vor allem der Kosteneinsparungen ist aber heute für viele Unternehmen keine Optimierungsübung mehr, sondern überlebenswichtig.

Digitalisierung umfasst mehr als IT-Investitionen

Dieses Gefühl der echten Dringlichkeit ist nach dem 8-Stufen-Modell des Harvard Business School-Professors und Change-Experten John P. Kotter entscheidende Voraussetzung für das Gelingen von Veränderungsprozessen in Unternehmen. Und um nichts anderes geht es hier, denn die Digitalisierung bedeutet eine gewaltige Veränderung für alle Beteiligten. Gewohnte Arbeitsprozesse werden umgestaltet, Aufgabenbereiche verändern sich, Mitarbeiter sind gezwungen, alte Arbeitsgewohnheiten aufzugeben, und müssen sich mit neuen digitalen Systemen vertraut machen. Es geht also beim Thema Digitalisierung um weit mehr als um IT-Investitionen. Was aber passiert, wenn das Gefühl der Dringlichkeit der Veränderung im Kontext der Digitalisierung nur beim Management wirklich ankommt?
Quelle: Prof. Dr. Frank Köster

Steinzeitmensch im digitalen Zeitalter​

Evolutionsbiologisch reagiert der Mensch seit Jahrtausenden immer gleich auf Veränderungen. Das Gehirn prüft in Sekundenbruchteilen, ob etwas Neues, Unbekanntes eine Bedrohung für das eigene Leben darstellt oder nicht. Bei einer gefühlten Bedrohung kommt der Steinzeitmensch in uns zum Vorschein – der Körper wird mit Adrenalin geflutet und wir reagieren mit Angriff, Flucht oder Erstarrung. Eine als bedrohlich wahrgenommene Veränderung bedeutet also Stress pur – nur, dass wir heute nicht mehr vor dem Säbelzahntiger davonlaufen, sondern vor dem neuen Zeiterfassungssystem, der ERP-, CRM- oder Kundenservice-Software. Das gilt umso mehr, wenn wir nicht nachvollziehen können, warum nun ausgerechnet diese Technologien eingesetzt werden sollen (es ging ja vorher auch ohne), und wenn wir völlig unvorbereitet ohne ausreichende Schulung plötzlich produktiv damit arbeiten müssen.

In der Praxis führt dieses Fluchtverhalten – um beim Beispiel der Kundenservice-Software zu bleiben – dazu, dass Servicemitarbeiter eigene, auf dem Desktop gespeicherte Textbausteine nutzen statt der im neuen Servicemanagement-System zentral hinterlegten, qualitätsgeprüften Texte. Veraltete und vielleicht sogar falsche Antwortbausteine führen aber zu erneuten Anfragen und unzufriedenen Kunden. Oder Servicemitarbeiter antworten aus Angst vor Kontrolle und eventueller Leistungsmessung nicht über das Servicemanagement-System, sondern weiterhin über ihr übliches Mailsystem. Damit können aber Antworten nicht zentral vom Serviceteam nachvollzogen werden, und der Bearbeitungsvorgang dauert deutlich länger. Und wichtige Informationen behält man natürlich auch am besten für sich und hinterlegt sie nicht als Notizen im System, schließlich macht man sich ohne einen Wissensvorsprung als Mitarbeiter schnell obsolet.

Auch klassisches Angriffsverhalten lässt sich bei der Einführung einer Kundenservice-Software gut beobachten. So beharren beispielsweise Mitarbeiter darauf, dass eine bestimmte Funktion abgebildet werden muss, obwohl diese mit der neuen Softwarelösung objektiv gar nicht mehr benötigt wird. Aber dafür die geliebten Mail-Unterordner aufgeben? Oder sie finden genau das Projektbeispiel in den vergangenen zwölf Monaten, bei dem Mitarbeiter nicht einbezogen wurden und die Software bis heute nicht richtig funktioniert. Damit haben sie genügend „Beweise“, dass die Software nicht sinnvoll ist.

Fehlt die Akzeptanz, wächst der Widerstand​​

Fehlt also das Verständnis für die Einführung einer Technologie oder trauen die Mitarbeiter dem System nicht, resultiert daraus häufig Ablehnung. Statt neugierig zu sein, Tools auszuprobieren und sich neue Kompetenzen zu erarbeiten, verweigern Mitarbeiter möglicherweise die Nutzung oder bauen parallel manuelle Prozesse auf. Trotz des papierlosen Büros soll es in Unternehmen immer noch Mitarbeiter geben, die E-Mails ausdrucken und abheften. Wer parallel zum CRM-System mit Excel-Listen arbeitet oder gar die Kontakte noch in einem manuellen Rolodex verwaltet, wird durch die Einführung eines CRM-Systems nicht effizienter. Wer Angst hat, durch eine digitale Technologie seinen Job zu verlieren, wird alles dafür tun zu beweisen, dass die Software nur Probleme bereitet und sinnlos Kosten verursacht – und ist damit auf dem besten Weg, das Projekt tatsächlich zum Scheitern zu bringen. Das Ergebnis: keine oder nur marginale Kosten- oder Effizienzvorteile im Vergleich zur Ausgangssituation. Eine selbsterfüllende Prophezeiung.

Quelle: in Kooperation mit Cloud-Science.de

Für die Einführung neuer Technologien oder Softwaretools reicht es also nicht aus, Log-in-Daten und ein Handbuch zu verschicken, auch wenn die Software noch so „intuitiv“ und „benutzerfreundlich“ ist. Es ist utopisch zu erwarten, dass sich mit der Investition in die IT-Infrastruktur die gewünschten Effizienzsteigerungen und Kosteneinsparungen schon irgendwann einstellen. Führungskräfte und Mitarbeiter müssen mitgenommen und befähigt werden, damit Digitalisierungsprojekte wirklich erfolgreich sind. Sie müssen dort „abgeholt“ werden, wo sie mit ihrer eigenen digitalen Kompetenz stehen, und sie müssen mit guten Argumenten von der Notwendigkeit und dem Nutzen eines neuen Systems überzeugt werden.

Die Akzeptanz eines neuen IT-Systems oder einer neuen Software wird damit zum Schlüsselfaktor für das Gelingen oder das Scheitern von Digitalisierungsprojekten. Obwohl das in verschiedensten Projekten sehr eindeutig belegt werden konnte, wird das Thema Akzeptanzmanagement und dessen professionelle Begleitung bei der Planung von Digitalisierungsprojekten immer noch kaum berücksichtigt. 

Digitaler Stress​

In der Studie „Gesund digital arbeiten?!“ werden verschiedene Belastungsfaktoren genannt, die Stress auslösen können, wenn Menschen mit digitalen Technologien arbeiten. Als größte Belastung empfinden die Befragten beispielsweise die gefühlte Leistungsüberwachung und Verletzung der Privatsphäre durch digitale Technologien. Hinzu kommen Faktoren wie dauernde Unterbrechungen und Ablenkungen, zum Beispiel durch automatische Benachrichtigungen oder Zuweisung von Telefonanrufen, sowie fehlende Erfolgserlebnisse hinsichtlich der eigenen Arbeitsfortschritte beziehungsweise erfolge. Auch das Gefühl, dass mitunter mehr Zeit in die Lösung von Problemen mit digitalen Technologien und Medien investiert werden muss als in die eigentliche Arbeitstätigkeit, löst bei vielen Mitarbeitern Stress und Widerstände aus.

Ob und in welchem Maße digitales Arbeiten von Arbeitnehmern grundsätzlich als belastend oder sogar als Stress empfunden wird, ist individuell höchst unterschiedlich. Es gibt Mitarbeiter, die eine hohe Affinität zu digitalen Technologien haben, gerne damit arbeiten und offen sind für neue Tools und Werkzeuge. Und es gibt Mitarbeiter, die das Überwindung kostet und die im Umgang mit digitalen Technologien immer wieder an ihre Grenze stoßen. Übrigens ist das keine Frage des Alters, denn das gilt auch für die so genannten „Digital Natives“, die bereits mit digitalen Technologien aufgewachsen sind. Eine Unternehmenssoftware effizient zu nutzen ist nämlich etwas völlig anderes, als eine Instagram-Story zu posten oder via Houseparty mit Freunden zu chatten. 

Digitalisierungsprojekte erfordern durchdachtes Akzeptanzmanagement​

Werden nun neue digitale Plattformen oder Softwarelösungen eingeführt, potenzieren sich diese digitalen Stressfaktoren für die Mitarbeiter – insbesondere für die weniger technikaffinen Mitarbeiter, die vielleicht ihre gerade mühsam erarbeitete Komfortzone wieder verlassen müssen. Es ist deshalb wichtig, im Rahmen eines professionellen und durchdachten Akzeptanzmanagements an verschiedenen Punkten eines Digitalisierungsprojektes mit ganz unterschiedlichen, nach Affinität und Kenntnisstand ausgewählten Maßnahmen eine möglichst breite Akzeptanz bei wirklich allen Mitarbeitern zu erreichen.

Einer der wichtigsten Erfolgsfaktoren des Akzeptanzmanagements ist deshalb eine transparente Kommunikation. Es gilt, den Führungskräften und Mitarbeitern die Dringlichkeit sowie die Vorteile der Digitalisierung des jeweiligen Arbeitsprozesses zu vermitteln und gleichzeitig zuzuhören, welche Vorbehalte es bei ihnen dazu gibt. Diese Akzeptanzbarrieren und damit möglichen Stressoren beim digitalen Arbeiten müssen identifiziert und offen adressiert werden, damit sie nicht hinterher in verstecktem Widerstand münden.

Besonderes Augenmerk sollte bei Digitalisierungsprojekten auf die Akzeptanz der Führungskräfte gelegt werden, denn sie müssen das Projekt gegenüber ihren Mitarbeitern rechtfertigen und es auch umsetzen. Idealerweise sind sie im Projekt zu einem späteren Zeitpunkt überzeugte Promotoren der neuen Technologie und kompetente Coaches für die eigenen Mitarbeiter. Fehlt bei den Führungskräften jedoch die Überzeugung, dass das Projekt sinnvoll ist, geraten sie gleich mehrfach unter Druck: Das Management erwartet die versprochenen Kosten- und Effizienzgewinne, die Mitarbeiter aber leisten erheblichen Widerstand, sodass diese sich nicht realisieren lassen. Und die Führungskraft muss das Projekt quasi gegen die eigene innere Überzeugung „durch boxen“ – eine Stress-Spirale entsteht, die das Projekt gefährden kann.

Ganz wesentlich ist zudem die Qualifikation der Mitarbeiter. Wiederholte Schulungen sind genauso wichtig wie die Gelegenheit für Nachfragen. Werden Mitarbeiter in das Projekt einbezogen, wird ihr Feedback ernst genommen und wertgeschätzt, steigt die Akzeptanz eines Digitalisierungsprojekts deutlich. So können Mitarbeiter nämlich neue Prozesse mitgestalten und fühlen sich der digitalen Technologie nicht ausgeliefert.

Aber auch nach der Implementierung bleibt der Faktor Mensch enorm wichtig, um das Potenzial der Digitalisierung voll auszuschöpfen. Bei neuen Tools, Technologien und Prozessen passieren Fehler. Mit einem partizipativen Führungsstil und einer offenen Fehlerkultur verursacht das keinen digitalen Stress und oder gar neue Widerstände, sondern der jeweilige Mitarbeiter und idealerweise sogar die gesamte Organisation lernen daraus.

Wenn also bei Digitalisierungsprojekten das „Warum“ gut erklärt wird, Führungskräfte und Mitarbeiter für das „Wie“ entsprechend geschult und befähigt werden, sowie Ängste und Vorbehalte offen adressiert und so zielgerichtet bearbeitet werden, können die Veränderungen im Rahmen der Digitalisierung von Mitarbeitern als Chance wahrgenommen werden. Wer also das Potenzial der Digitalisierung voll ausschöpfen will, sollte nicht nur in IT investieren, sondern auch in ein begleitendes professionelles Akzeptanzmanagement.

Sandra Stamer & Carola Lübbenjans

Quellenverweis: Veröffentlicht in der Fachzeitschrift CallCenterProfi, Dezember 2020 – https://www.callcenterprofi.de